Urteil im NSU-Prozess steht bevor

DPA
MÜNCHEN
Veröffentlicht 11.07.2018 00:00
Aktualisiert 11.07.2018 09:43
AFP

Nach gut fünf Jahren und mehr als 430 Prozesstagen steht der NSU-Prozess am Oberlandesgericht München vor dem Ende: An diesem Vormittag soll das Urteil gegen die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte gesprochen werden.

Damit endet das Verfahren um die Morde und Anschläge des «Nationalsozialistischen Untergrunds». Es ist einer der längsten und aufwendigsten Indizienprozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Urteilsbegründung könnte sich über viele Stunden hinziehen.

Die Bundesanwaltschaft hat die Höchststrafe für Zschäpe gefordert: lebenslange Haft, die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld sowie anschließende Sicherungsverwahrung. Die Anklage sieht die heute 43-Jährige als Mittäterin an allen Verbrechen des NSU, also an den neun Morden an türkisch- und griechischstämmigen Gewerbetreibenden, an dem Mord an einer deutschen Polizistin, an zwei Bombenschlägen mit Dutzenden Verletzten sowie insgesamt 15 Raubüberfällen. 2011 setzte Zschäpe zudem die letzte Fluchtwohnung des NSU in Zwickau in Brand.

Zschäpes zwei Verteidiger-Teams haben dagegen den Freispruch von allen Morden und Anschlägen gefordert: Zschäpe sei keine Mittäterin, sie sei keine Mörderin und keine Attentäterin. Verurteilt werden könne sie aber wegen der Brandstiftung in der Wohnung in Zwickau kurz nach dem Auffliegen des NSU-Trios am 4. November 2011.

Zschäpes Vertrauensanwälte verlangten am Ende eine Haftstrafe von unter zehn Jahren, ihre ursprünglichen drei Verteidiger beantragten die sofortige Freilassung, weil die Haftstrafe für die Brandstiftung mit der Untersuchungshaft schon abgegolten sei. Zschäpes Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatten sich am 4. November 2011 nach einem gescheiterten Banküberfall in Eisenach selbst erschossen.

Auch für die vier Mitangeklagten hat die Bundesanwaltschaft teils langjährige Haftstrafen gefordert, unter anderem zwölf Jahre für den mutmaßlichen Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen. Wohlleben soll die «Ceska»-Pistole beschafft haben, mit der der NSU später neun Menschen ausländischer Herkunft ermordete. Seine Verteidigung hat dagegen auf Freispruch plädiert.

Auch der Mitangeklagte André E. soll nach dem Willen der Anklage zwölf Jahre in Haft, unter anderem wegen Beihilfe zum Bombenanschlag auf ein Lebensmittelgeschäft in der Probsteigasse in Köln. E. soll damals das Wohnmobil gemietet haben, mit dem die Täter nach Köln fuhren. Für Carsten S., der die «Ceska» einst zusammen mit Wohlleben beschafft haben soll, will die Bundesanwaltschaft eine Jugendstrafe von drei Jahren. Und für den Mitangeklagten Holger G. fordert sie fünf Jahre wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. G. soll unter anderem falsche Dokumente für den NSU besorgt haben.

Die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) sieht durch die NSU-Morde und die Reaktion des Staates auf den rechtsextremen Terror die Menschen türkischer Herkunft stark verunsichert. «Unser Vertrauen in die staatlichen Institutionen ist zutiefst erschüttert», sagte der TGD-Vorsitzende Gökay Sofuoğlu der Deutschen Presse-Agentur. Dieses Vertrauen könne nur durch «weitere Strafverfahren gegen die konkret benannten Nazis und V-Personen im NSU-Komplex» zurückgewonnen werden.

Die Bundesanwaltschaft habe sich auf die These versteift, die Morde seien von einem isoliert agierenden Trio verübt worden, monierte Sofuoğlu. Erkenntnisse aus parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und aus Recherchen zivilgesellschaftlicher Initiativen seien ignoriert worden. Dabei hätten diese gezeigt, «dass die Planung, Unterstützung und Durchführung des NSU-Terrors von erheblich mehr Nazis bewerkstelligt wurde.»

Der NSU-Opferanwalt Mehmet Daimagüler sprach von einem «Verfahren der versäumten Chancen». Die Bundesanwaltschaft habe «oft eine geradezu destruktive Rolle gespielt», sagte er der «Berliner Zeitung» (Mittwoch). «An der Zahl der V-Leute im NSU-Umfeld und der Frage, wie
groß der NSU überhaupt war, war sie nicht interessiert.» In dem Prozess sei zwar etwas erreicht worden. «Aber die Chance zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens wurde verpasst.»

Auch der frühere Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags, Clemens Binninger, kritisierte, im NSU-Komplex seien viele Fragen noch immer unbeantwortet. «Der Polizistenmord in Heilbronn ist aus meiner Sicht von einer Aufklärung weit entfernt», sagte der CDU-Politiker dem Portal t-online.de.

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