Mesut Özil tritt aus Nationalelf zurück und kritisiert „rassistische Tendenzen“

DAILY SABAH MIT AFP
ISTANBUL
Veröffentlicht 22.07.2018 00:00
Aktualisiert 24.07.2018 13:36
AFP

Nach den zahlreichen Anfeindungen wegen seinem Treffen mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan hängt Mesut Özil das Trikot der deutschen Fußball-Nationalmannschaft an den Nagel. "Schweren Herzens" habe er sich zum Ausscheiden aus der Nationalmannschaft entschlossen, teilte Özil am Sonntagabend via Twitter mit. Er machte insbesondere DFB-Chef Reinhard Grindel für seinen Schritt verantwortlich und prangerte einen weit verbreiteten Rassismus gegen ihn als Deutschtürken an.

"Schweren Herzens und nach langer Überlegung werde ich wegen der jüngsten Ereignisse nicht mehr auf internationaler Ebene für Deutschland spielen, da ich dieses Gefühl des Rassismus und der Respektlosigkeit habe", schrieb Özil in der auf Englisch verfassten zweiseitigen Erklärung. Die Entscheidung, die deutsche Nationalmannschaft zu verlassen, sei ihm "extrem schwer" gefallen, weil er immer "alles für meine Teamkollegen, den Trainerstab und die guten Menschen von Deutschland gegeben" habe. Er habe früher das deutsche Trikot mit so viel stolz und Begeisterung getragen, heute nicht mehr.

Özil und der ebenfalls türkischstämmige deutsche Fußball-Nationalspieler Ilkay Gündoğan hatten den türkischen Staatschef Erdoğan Mitte Mai in London getroffen und sich mit ihm fotografieren lassen. Gündoğan überreichte dem türkischen Präsidenten dabei ein Trikot mit der persönlichen Widmung "Mit großem Respekt für meinen Präsidenten."

Das Treffen wenige Wochen vor der Türkei-Wahl und der Fußball-WM löste in Deutschland eine Welle der Empörung aus. Nach dem frühen Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-WM in Russland kochte das Thema wieder hoch. Er bekam zahlreiche Schuldzuweisungen.

Özil verwies in seiner Erklärung darauf, dass Grindel ihn vor kurzem öffentlich aufgefordert habe, zu der Angelegenheit Stellung zu nehmen - obwohl sie noch vor der WM überein gekommen seien, dass er sich lieber ganz auf den Fußball konzentrieren solle. Er äußere sich nun nicht wegen Grindel, sondern weil er dies so wolle, schrieb Özil.

"Ich werde nicht länger als Sündenbock für seine Inkompetenz und Unfähigkeit, seinen Job richtig zu machen, herhalten", wandte sich der Spieler des Londoner Vereins FC Arsenal gegen den DFB-Chef. Schon unmittelbar nach dem Erscheinen des Fotos mit Erdoğan habe Grindel ihn aus dem Team haben wollen, Nationaltrainer Jogi Löw und Team-Manager Oliver Bierhoff hätten sich aber schützend vor ihn gestellt.

Vom Handeln Grindels sei er zwar "sehr enttäuscht, aber nicht überrascht". 2004 habe dieser als Mitglied des Bundestages behauptet, dass 'Multikulturalität ein Mythos und eine lebenslange Lüge' sei. "Sie haben gegen Gesetze für Doppel-Nationalitäten und Strafen für Bestechung gestimmt, und Sie haben gesagt, dass die islamische Kultur in vielen deutschen Städten zu tief verwurzelt sei. Das ist nicht zu vergessen und nicht zu verzeihen."

Özil kritisierte, in den Augen von Grindel und dessen Unterstützern sei er "Deutscher, wenn wir gewinnen, aber ich bin ein Einwanderer, wenn wir verlieren". Die früheren Nationalspieler Lukas Podolski und Miroslav Klose würden nie als "Deutsch-Polen" bezeichnet, "also warum bin ich Deutschtürke?" Deutsche Politiker und Fans hätten ihn nach dem Erdoğan-Foto mitunter wüst beschimpft und damit ihre "zuvor versteckten rassistischen Tendenzen" offenbart. "Ich wurde von Bernd Holzhauer als 'Ziegenficker' wegen meines Bildes mit Präsident Erdogan und meines türkischen Hintergrundes bezeichnet. Außerdem sagte mir Werner Steer, dass ich mich 'nach Anatolien verpissen soll. Diese Leute seien "um nichts besser als der Deutschland-Fan, der mir nach dem Spiel gegen Schweden gesagt hat 'Özil, verpiss dich du scheiß Türkensau. Türkenschwein hau ab'."

Er sei nun zu dem Schluss "genug ist genug" gekommen, schrieb Özil abschließend. "Rassismus sollte niemals akzeptiert werden."

Es sei nicht hinnehmbar, wenn deutsche Medien seine "Herkunft und ein einfaches Bild als Erklärung für eine schlechte Weltmeisterschaft des gesamten Kaders hernehmen."

Özil richtete seine Kritik auch gegen "diverse deutsche Zeitungen". Diese hätten seinen Hintergrund und das Foto mit Präsident Erdoğan als rechte Propaganda genutzt, um deren politische Haltung zu unterstützen. "Warum sonst nutzen sie Bilder und Überschriften mit meinem Namen als direkte Erklärung für die Niederlagen in Russland? Sie kritisieren nicht meine Leistung, sie kritisieren nicht die Leistung des Teams, sie kritisieren nur meine türkische Abstammung und meinen Respekt davor." Das überschreite seine persönliche Linie, "die niemals überschritten werden sollte, da die Zeitungen versuchen, die deutsche Nation gegen mich aufzubringen."

Während der WM habe er mit BigShoe zusammengearbeitet und geholfen, 23 Kindern in Russland lebensrettende Operationen zu ermöglichen, "so wie ich es bereits in Brasilien und Afrika getan habe." In den Zeitungen würden solche Sachen nicht erwähnt und gewürdigt. "Für sie ist es wichtiger, wenn ich ausgebuht werde. Oder ein Bild mit einem Präsidenten ist für sie anscheinend bedeutender, als Kindern auf der ganzen Welt durch Operationen zu helfen. Sie hätten auch die Möglichkeit, die Wahrnehmung dafür zu erhöhen und Finanzmittel zu besorgen. Aber sie haben sich entschieden, das nicht zu machen."

Er kritisierte darüber hinaus "die unterschiedlichen Maßstäbe, die die Medien anlegen." Als Beispiel zog er Lothar Matthäus heran. Dieser hatte sich vor einigen Tagen mit dem russischen Präsidenten Putin getroffen. Dafür habe er aber "fast keine Kritik bekommen". Trotz seiner wichtigen Rolle im DFB hätten sie nicht von ihm verlangt, seine Handlungen zu erklären. "Er vertritt weiter die Spieler Deutschlands, ohne irgendeine Verwarnung. Wenn die Medien gefordert haben, dass ich aus dem WM-Kader fliegen soll, sollte er dann nicht sein Ehrenspielführeramt abgeben? Macht meine türkische Abstammung mich zu einem wertvolleren Ziel?"

Özil beklagte sich weiter über die aufgekündigte Zusammenarbeit mit seiner alten Schule und seinen Charity-Partnern für wohltätige Zwecke. "Ich habe immer gedacht, dass eine Partnerschaft Unterstützung beinhaltet, sowohl in guten als auch in schlechteren Zeiten. Ich hatte geplant, meine frühere Schule Berger Feld in Gelsenkirchen zu besuchen, zusammen mit meinen Charity-Partnern. Ich habe ein einjähriges Projekt gegründet, wo Kinder mit Migrationshintergrund, Kinder aus ärmeren Familien und andere Kinder zusammen Fußball spielen können und soziale Regeln für das Leben lernen." Seine "sogenannten 'Partnern'" hätten ihn jedoch verlassen, weil sie nicht länger mit ihn zusammenarbeiten wollten.

Zuvor hatte Özil im Abstand von mehreren Stunden bereits zwei mehrseitige Erklärungen in den sozialen Online-Netzwerken veröffentlicht, in denen er seine Beweggründe erklärte.

"Für mich ging es bei dem Foto mit Präsident Erdoğan nicht um Politik oder Wahlen", hieß es darin. Er habe damit vielmehr "das höchste Amt im Land meiner Familie respektiert". Bei dem Gespräch mit Erdoğan sei es im Übrigen um Fußball gegangen: "Mein Beruf ist Fußballspieler und nicht Politiker."

In der Kontroverse hätten einige deutsche Zeitungen den Vorfall für rechte Propaganda missbraucht und versucht, Deutschland gegen ihn aufzubringen, schrieb Özil überdies.

Das dritte Statement im Wortlaut:

"Die Sache, die mich in den letzten Monaten am meisten frustriert hat, war die Fehlbehandlung durch den DFB, und im Speziellen durch DFB-Präsident Reinhard Grindel. Nach meinem Bild mit Präsident Erdoğan wurde ich von ihm gebeten, meinen Urlaub zu verkürzen, nach Berlin zu fahren und ein gemeinsames Statement abzugeben, um die Diskussionen zu beenden und den Sachverhalt richtig zu stellen. Als ich versucht habe, Grindel mein Erbe und meine Herkunft, also die Gründe für das Bild, zu erklären, war er viel mehr daran interessiert, über seine eigenen politischen Ansichten zu sprechen und meine Meinung zu verharmlosen. Während seine Handlungen herablassend waren, haben wir beschlossen, dass es das Beste wäre, sich auf den Fußball und die kommende Weltmeisterschaft zu konzentrieren. Das ist der Grund, warum ich nicht am DFB-Medientag während der WM-Vorbereitung anwesend war. Ich wusste, dass Journalisten, die über Politik und nicht Fußball berichten würden, mich nur attackiert hätten, obwohl die ganze Sache nach dem TV-Interview von Oliver Bierhoff vor dem Spiel gegen Saudi-Arabien in Leverkusen beendet hätte sein sollen.

Während dieser Zeit habe ich auch den Bundespräsidenten, Frank-Walter Steinmeier, getroffen. Im Gegensatz zu Grindel war Präsident Steinmeier professionell und wirklich interessiert, was ich über meiner Familie, meiner Herkunft und meinen Entscheidungen zu sagen hatte. Ich erinnere mich, dass das Treffen nur zwischen mir, Ilkay und Präsident Steinmeier stattfand, Grindel war verärgert, dass er nicht dabei sein durfte, um seine eigene politische Karriere zu forcieren. Ich hatte mit Präsident Steinmeier vereinbart, ein gemeinsames Statement zu diesem Thema zu veröffentlichen, ein weiterer Versuch, um voranzukommen und uns auf Fußball zu konzentrieren. Aber Grindel war verärgert, dass es nicht sein Team war, dass das erste Statement veröffentlicht hatte, er war verärgert, dass die Presseabteilung Steinmeiers in dieser Sache die Führung übernommen hat.

Seit dem Ende der Weltmeisterschaft ist Grindel bezüglich seiner Entscheidungen vor dem Turnier stark unter Druck geraten, und das zurecht. Vor kurzem sagte er öffentlich, dass ich ein weiteres Mal meine Handlungen erklären solle und gab mir die Schuld für die schlechten Leistungen der Mannschaft in Russland, obwohl er mir in Berlin gesagt hatte, dass das Thema erledigt sei. Ich äußere mich jetzt nicht wegen Grindel, sondern weil ich es will. Ich werde nicht länger der Sündenbock sein für seine Inkompetenz und Unfähigkeit, seinen Job gut zu machen. Ich weiß, dass er mich nach dem Bild aus dem Team haben wollte, und er hat seine Meinung auf Twitter ohne Nachdenken oder Rücksprache veröffentlicht, aber Joachim Löw und Oliver Bierhoff haben mich unterstützt und mir den Rücken gestärkt. In den Augen von Grindel und seinen Unterstützern bin ich Deutscher, wenn wir gewinnen, aber ein Migrant, wenn wir verlieren. Obwohl ich Steuern in Deutschland bezahle, Einrichtungen für deutsche Schulen spende und die Weltmeisterschaft 2014 mit Deutschland gewonnen habe, bin ich noch immer nicht in der Gesellschaft akzeptiert. Ich werde behandelt, als wäre ich 'anders'. Ich wurde mit dem 'Bambi' 2010 als Beispiel für erfolgreiche Integration in die deutsche Gesellschaft ausgezeichnet, 2014 erhielt ich das 'Silberne Lorbeerblatt' von der Bundesrepublik Deutschland und ich war der 'Deutsche Fußball Botschafter' 2015. Aber ganz klar, ich bin kein Deutscher...? Gibt es Kriterien, um ein ganzer Deutscher zu sein, denen ich nicht gerecht werde? Meine Freunde Lukas Podolski und Miroslav Klose werden nie als Deutsch-Polen bezeichnet, also warum bin ich Deutsch-Türke? Ist es so, weil es um die Türkei geht? Ist es, weil ich ein Moslem bin?

Ich glaube, dass hier ein wichtiger Grund liegt. Durch die Bezeichnung Deutsch-Türke werden Menschen gekennzeichnet, die Familien in mehr als einem Land haben. Ich wurde in Deutschland geboren und erzogen, also warum akzeptieren die Menschen nicht, dass ich Deutscher bin?
Grindels Meinungen können auch am anderen Stellen gefunden werden. Ich wurde von Bernd Holzhauer (ein deutscher Politiker) als 'Ziegenficker' wegen meines Bildes mit Präsident Erdoğan und meines türkischen Hintergrundes bezeichnet. Außerdem sagte mir Werner Steer (Chef des Deutschen Theaters), dass ich mich 'nach Anatolien verpissen soll', ein Gebiet in der Türkei, aus dem viele Migranten stammen. Wie ich schon gesagt habe, mich wegen meiner Familien-Abstammung zu kritisieren und zu beschimpfen ist eine erbärmliche Linie, die überschritten wurde, und Diskriminierung als Mittel für politische Propaganda zu nutzen ist etwas, dass sofort im Rücktritt dieser respektlosen Individuen resultieren sollte. Diese Menschen haben mein Bild mit Präsident Erdoğan als Möglichkeit genutzt, um ihre zuvor versteckten rassistischen Tendenzen nun auszudrücken, und das ist gefährlich für die Gesellschaft. Sie sind um nichts besser als der Deutschland-Fan, der mir nach dem Spiel gegen Schweden gesagt hat 'Özil, verpiss dich du scheiß Türkensau. Türkenschwein hau ab'. Ich möchte Hassmails, Drohanrufe am Telefon und Kommentare in sozialen Medien gegen mich und meine Familie gar nicht diskutieren. Dies alles steht für das Deutschland aus der Vergangenheit, ein Deutschland, das nicht offen für neue Kulturen war, und ein Deutschland, auf das ich nicht stolz bin. Ich bin mir sicher, dass viele stolze Deutsche, die eine offene Gesellschaft begrüßen, meiner Meinung wären.

Reinhard Grindel, ich bin sehr enttäuscht, aber nicht überrascht von Ihrem Handeln. In 2004, als Sie Mitglied des Bundestages waren, haben Sie behauptet, dass 'Multikulturalität ein Mythos und eine lebenslange Lüge' sei. Sie haben gegen Gesetze für Doppel-Nationalitäten und Strafen für Bestechung gestimmt, und Sie haben gesagt, dass die islamische Kultur in vielen deutschen Städten zu tief verwurzelt sei. Das ist nicht zu vergessen und nicht zu verzeihen.

Wegen der Behandlung durch den DFB und viele andere möchte ich das deutsche Trikot nicht länger tragen. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht gewollt bin und vergessen wurde, was ich seit meinem Debüt 2009 geleistet habe. Leute mit rassendiskrimierendem Hintergrund sollten nicht im größten Fußball-Verband der Welt arbeiten dürfen, der viele Spieler mit zwei Heimatländern hat. Solche Einstellungen spiegeln einfach nicht die Spieler wider, die sie vorgeben zu vertreten.

Schweren Herzens und nach gründlicher Überlegung werde ich wegen der zurückliegenden Vorkommnisse nicht länger für die deutsche Nationalmannschaft spielen, da ich Rassismus und fehlenden Respekt spüre. Ich habe früher das deutsche Trikot mit so viel stolz und Begeisterung getragen, heute nicht mehr. Es war sehr schwierig, diese Entscheidung zu treffen, da ich immer alles für meine Teamkollegen, das Trainerteam und die guten Menschen in Deutschland gegeben habe. Aber wenn hochrangige DFB-Offizielle mich so behandeln, wie sie es getan haben, meine türkischen Wurzeln nicht respektieren und mich aus selbstsüchtigen Gründen für politische Propaganda benutzen, dann ist genug genug. Dafür spiele ich nicht Fußball, und ich werde mich nicht zurücklehnen und in dieser Sache nichts tun. Rassismus darf niemals akzeptiert werden."

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