Urteil gegen ehemaligen Auschwitz-Wachmann Reinhold H. soll am Freitag fallen

AFP
HAMBURG
Veröffentlicht 15.06.2016 00:00
Aktualisiert 16.06.2016 16:31
Auschwitz-Überlebender Leon Schwarzbaum zeigt altes Foto von ihm und seiner Familie Foto: DPA
Auschwitz-Überlebender Leon Schwarzbaum zeigt altes Foto von ihm und seiner Familie (Foto: DPA)

Nach rund viermonatigem Prozess will das Detmolder Landgericht am Freitag das Urteil gegen den ehemaligen Auschwitz-Wachmann Reinhold H. verkünden. Der 94-Jährige muss sich wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen verantworten, weil er von 1943 bis 1944 als SS-Angehöriger Dienst im größten deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagerkomplex verrichtet haben soll. Die Anklage fordert sechs Jahre Haft.

Die Verteidigung plädiert auf Freispruch und verweist dabei auf fehlende Beweise für eine konkrete Beteiligung an Vergasungen oder den vorangegangenen Selektionen. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage, die Auschwitz-Überlebende und Angehörige von dort Ermordeten vertritt, reicht jede Unterstützung der Abläufe in Vernichtungslagern etwa durch Wachdienste aus, um sich der Beihilfe schuldig gemacht zu haben .

Der Detmolder Prozess ist eines der mutmaßlich letzten Verfahren wegen NS-Verbrechen während des Holocausts in Deutschland. Darüber, ob der hochbetagte Angeklagte im Fall eines Schuldspruchs ins Gefängnis muss, wird am Freitag nicht entschieden. Die Frage wird erst später separat beantwortet, sollte ein Urteil rechtskräftig werden.

Im riesigen Lagerkomplex von Auschwitz-Birkenau ermordeten NS-Täter zwischen 1940 und 1945 schätzungsweise 1,1 Millionen Menschen. Bei etwa einer Million der Getöteten handelte es sich um Juden. Sie wurden zumeist direkt nach Ankunft in dem als Vernichtungszentrum geplanten Lagerteil Birkenau in Gaskammern ermordet.

H. räumte in einer von seinen Anwälten verlesenen Erklärung ein, im Alter von Anfang 20 als Unteroffizier der SS-Wachmannschaft in Auschwitz Häftlinge bewacht zu haben. Er gab außerdem zu, über den dort verübten Massenmord im Bild gewesen zu sein.

Zugleich betonte er, niemals selbst Wachdienst in Birkenau beziehungsweise an der sogenannten Rampe verübt zu haben, an der Juden für die Gaskammern selektiert wurden. Er schäme sich dafür, "Unrecht" tatenlos zugesehen zu haben und der "verbrecherischen Organisation" der SS angehört zu haben, ergänzte der Angeklagte in eigenen Worten.

Vertreter der Nebenkläger kritisierten die Stellungnahme des Angeklagten als ausweichend und nichtssagend. H. stelle sich selbst als "unbeteiligten Zaungast" dar und sei anscheinend bis heute nicht bereit, sich seiner Verantwortung für die in Auschwitz begangenen Untaten zu stellen, erklärte Anwalt Thomas Walther in seinem Plädoyer.

In dem Prozess berichteten mehrere Auschwitz-Überlebende als Zeugen von dem Grauen in dem Vernichtungslager und forderten den Angeklagten in emotionalen Appellen teils auch direkt auf, offen und ehrlich über seine Zeit dort zu berichten. Bis auf die Erklärung seiner Verteidiger und die ergänzenden eigenen Sätze schwieg er allerdings.

Der Prozess gegen H. ging aus einer größeren Anzahl von Ermittlungsverfahren hervor, die deutsche Staatsanwaltschaften in den vergangenen Jahren vor dem Hintergrund einer sich verändernden Rechtsprechungspraxis angeschoben hatten. Sie lässt Verurteilungen wegen Beihilfe zu Massenmorden in Vernichtungslagern inzwischen auch dann zumindest möglich erscheinen, wenn Verdächtigen keine konkrete Beteiligung an Tötungen nachzuweisen ist. Es reichen allgemeine Formen der Unterstützung der Lagerfunktion.

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