Polizeigewalt beim G20 wider den Bürgerrechten – ein Vergleich zu den Gezi-Protesten

BURAK ALTUN @burakaltun_DS
ISTANBUL
Veröffentlicht 11.07.2017 00:00
Aktualisiert 05.03.2018 15:45
DPA

Der im Vorfeld viel diskutierte G20-Gipfel ist nun zu Ende gegangen. Im Grunde sollten die Inhalte der politischen Gespräche zwischen den führenden Politikern die Schlagzeilen bestimmen, aber in der Erinnerung hängengeblieben sind vor allem die Ausschreitungen am Rande der Organisation, die von einer unverhältnismäßigen und teilweise rechtlich fragwürdigen Härte und Kompromisslosigkeit der Polizei bekämpft wurden. Kritiker werfen der Hamburger Polizei vor, die Gewalt selbst provoziert zu haben. Man spricht in dem Zusammenhang von der „Hamburger Linie". Hartmut Dudde, Hamburgs Polizeipräsident, ist bekannt für seine null Toleranz Politik, sein autoritäres Verhalten und sein harte Hand.

Dass er genau diesem Image gerecht werden sollte, hatte er auch schon im Vorfeld angekündigt und machte sein Vorhaben dann auch wahr. Bereits zu Beginn des Gipfels ließ er die Zelte von Demonstranten niederreißen, um zu verhindern, dass sie die Nacht dort verbringen, eine gerichtliche Legitimierung war zu dem Zeitpunkt nicht gegeben, diese kam erst später. Die Demonstration in dem zugewiesenen Ort war zuvor genehmigt worden. Die Polizei begründete ihr hartes Vorgehen mit „Sicherheitsbedenken". Dieser Begriff scheint aktuell das universelle Schlüsselwort zu sein, um sich vor rechtlichen Belangen absichern zu können. Zumindest wenn man Beamter der deutschen Polizei ist.

Rückendeckung gab es von der Bundesregierung, alles was die Polizei tat oder nichts tat, schien bereits abgesegnet. So groß und blind wie das Vertrauen in die Polizei auch war, genauso groß war auf der anderen Seite das Misstrauen gegenüber den Demonstranten, vor allem da diese aus autonomen und linken Kreisen kamen, politische Gegner also, die auch gegen die Interessen der deutschen Bundesregierung protestierten. Dann nämlich nimmt man es anscheinend nicht so streng mit den Grundrechten, dem Demonstrationsrecht oder der Versammlungsfreiheit. Unliebsame Menschenansammlungen oder Akteure im In- und Ausland werden gerne kritisiert oder eben nicht kritisiert, wenn sie den eigenen Interessen dienen.

Thomas Wüppesahl, ehemaliger Polizist und Gründer der „Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten", kennt sich mit Polizeieinsätzen gut aus. Er äußerte sich in einem Interview der „Zeit". Für ihn war das Vorgehen der Polizei gegen die „Welcome to Hell" Kundgebung des sogenannten „Schwarzen Blocks" „außerhalb jeder Rechtsstaatlichkeit". Es wäre nicht darum gegangen, dass die Leute vermummt gewesen seien, man habe gezielt versucht „den Kopf der Versammlung zu zerschlagen". Nicht etwa weil es Gewalt gegeben habe, sondern aus rein „prophylaktischen" Gründen. Für alles was passiert wäre trage die Polizei die Verantwortung, sie wäre der „Aggressor" gewesen.

„Die Versammlung war ohne Auflagen genehmigt, sie wurde wochenlang in Kooperation mit der Polizei und der Versammlungsleitung vorbereitet. Dass die Leute jetzt richtig sauer sind, ist nachvollziehbar. Die Hamburger Polizei ist bekannt für ihr rechtswidriges Verhalten. Hartmut Dudde hat schon so viel auf dem Kerbholz." Wenn man Dudde die Einsatzleitung gebe, wolle man in erster Linie einen reibungslosen Ablauf des Gipfels, egal was das für die Bürgerrechte und Demokratie bedeute.

Man dürfe wegen paar Vermummter nicht den gesamten Versammlungszug von 10.000 Menschen auflösen, „wahllos Wasserwerfer und Pfefferspray einsetzen, auch gegen Unbeteiligte". Das sei außerhalb jeder Verhältnismäßigkeit. Polizisten wären selber vermummt und könnten so geschützt „übergriffig werden". Die Polizei habe die Demonstranten bewusst zur Straße am St. Pauli Fischmarkt gedrängt, wo es keine Fluchtmöglichkeiten gegeben habe, um den Versammlungskopf aufreiben zu können.

So wie Wüppesahl sehen es auch viele Andere. Die Fotos und Videos der Zusammenstöße sprechen auch eine deutliche Sprache. Immer wieder prügelt die Polizei auf einzelne, am Boden liegende Demonstranten, setzt nach Belieben Pfefferspray und Wasserwerfer ein, von Deeskalationsmaßnahmen keine Spur. Das Satiremagazin Postillon titelt das ganze spöttisch: „Zur Deeskalation: Hamburger Polizei fährt Atomrakete auf". Einige halten die Nachricht, angesichts der Lage, im ersten Moment für wahr. Heftige Kritik für das Vorgehen der Polizei kam von der linken Opposition, Beifall gab es hingegen von der Bundesregierung. Alles was die Polizei tat war richtig, egal ob es gegen geltendes Recht verstieß oder nicht.

Irgendwann reichten dann auch die knapp 20.000 Polizisten anscheinend nicht mehr aus und man beorderte das „Spezialeinsatzkommando" (SEK) herbei. Doch weshalb? Auslöser war wohl eine Gruppe, die sich in einem Haus verschanzt hatte. Angeblich hätten diese Molotowcocktails gehabt, jedoch keine Schusswaffen, Bomben oder Geiseln. Eine Situation, mit der die regulären Polizeikräfte hätten fertig werden müssen. Stattdessen waren nun schwer bewaffnete SEK-Truppen auf den Straßen. Diese hatten ihre Waffen schon schussbereit und nahmen erste Ziele ins Visier und gaben schon mal paar Warnschüsse ab. Glücklicherweise waren die Demonstranten vernünftiger als die Polizei, so dass es nicht zu Toten oder Schwerverletzten kam.

Laut offiziellen Statistiken wurden 476 verletzte Beamte und 70 verletzte Demonstranten in Krankenhäusern registriert. Diese Zahl täuscht jedoch, denn die Dunkelziffer ist unbekannt. Viele Demonstranten ließen sich vor Ort oder gar nicht registrieren. Bei den Polizisten wird da sorgfältiger dokumentiert. Es ist davon auszugehen, dass die reelle Zahl der verletzten Demonstranten weit höher liegt als bekannt.

Skandalös und unverantwortlich war auch ein Artikel der Bild, das eine „Online-Hetzjagd" auf einen vermeintlichen Täter auslöste. Regierungsnahe Medien unterstützten den Kurs der Politik und Polizei.

Die gleiche Härte zeigten man in Hamburg jedoch nicht, als die PKK-Sympathisanten aufmarschierten. Diese hatten zahlreiche verbotene Symbole der Terrororganisation dabei - die Polizei sicherte den Protestmarsch sogar zusätzlich ab. Dieses Verhalten stärkt den Gedanken, dass die Polizei nur dann handelt, wenn es in ihre Strategie passt oder sie politischen Halt genießt. An den PKK-Anhängern auf Hamburgs Straßen schien sich in Deutschland niemand gestört zu fühlen, außer der türkischen Gemeinde, die den Aufmarsch als Provokation empfand. Es ist auch lange kein Geheimnis mehr, dass die deutsche Politik grundlegende Sympathien für oppositionelle Gruppen und Parteien pflegt, die sich politisch gegen die türkische Regierung und Präsident Erdoğan positionieren. Egal ob es Verdächtige im Zusammenhang mit dem Putsch-Versuch sind oder andere Straftäter.

Aus türkischer Sicht bietet sich der Vergleich zu den Gezi-Protesten im Jahr 2013 förmlich an. Auch damals wurden Zelte von friedlichen Demonstranten abgerissen. Die Verantwortung für den harschen Vorgang lag bei der örtlichen Polizei. Diese, so weiß man heute, war tief durchdrungen von den Gülenisten. Eine Eskalation wurde von ihnen in Kauf genommen, sogar provoziert. Dieses anfängliche Vorgehen gegen einige Demonstranten hat dann ganz andere Züge bekommen. Die eigentliche Demonstration gegen die vermeintliche Abwurzelung der Bäume beim Umbau des Gezi-Parks wurde zur Protestwelle gegen die Regierung, es entstand ein Sammelbecken für die verschiedensten politischen Organisationen und Wutbürger. Beteiligt waren auch viele verbotene Terrororganisationen, wie die PKK oder die „Revolutionäre Volksbefreiungsfront-Partei" DHKP-C. Die Banner dieser Organisationen zierten schon bald das ganze Stadtbild in dem Viertel. Die Proteste waren nicht auf ein Wochenende begrenzt, so wie es in Hamburg der Fall war, sondern dauerten fast den ganzen Sommer lang an und breitete sich auch auf andere Provinzen aus. In Istanbul zog sich die Polizei sogar zwischenzeitlich zurück, um eine größere Eskalation zu vermeiden.

Die türkische Polizei, die anfänglich kritisiert worden war, änderte ihren Kurs und ging gemäßigter vor, versuchte aber gleichzeitig die Ordnung zu bewahren. Denn mittlerweile flogen Pflastersteine, öffentliches und privates Eigentum wurde zerstört, die Straßen brannten und es wurden Molotowcocktails geworfen. Irgendwann reisten sogar Menschen aus dem Ausland an. Die Verwüstung war immens.

Die westlichen Medien konzentrierten sich bei ihrer Berichterstattung auf die Sichtweise der Demonstranten und Aktivisten von verschiedensten Organisationen. Es wurde ein Bild vermittelt, dass vermeintliche Gewalttäter als Opfer darstellte. Die Vermummung diente auf einmal zum Schutz vor Pfefferspray, die Steine flogen angeblich nur deshalb, weil man sich gegen die Polizei wehren musste. Die Polizei war plötzlich „Erdoğans Polizei", für alles was geschah wurde der damalige Ministerpräsident verantwortlich gemacht, als ob er die Polizeieinsätze persönlich planen, koordinieren und leiten würde. Egal was passierte und wie groß die Gewalt der Aktivisten war, sie wurde in den westlichen Medien stets klein gehalten, man sprach von einzelnen Unruhestiftern, die sich bewusst in die Menge einschlichen, um Unruhe zu stiften. Das ganze nahm irgendwann sogar verschwörungstheoretische Gestalt an, als einige behaupteten, Erdoğan würde gezielt Akteure in die Menge einschleusen, um tatkräftig ein Vorgehen der Polizei zu provozieren.

Die Demonstrationen wurden schon fast heiliggesprochen, denn sie richteten sich gegen den gemeinsamen Feind: Erdoğan und die AK-Partei. Die gleiche CDU, die damals, wie auch heute, die türkischen Sicherheitskräfte wegen ihrer Gangart kritisiert, wechselte am G20-Wochenende schlagartig die Fronten. Trotz der heftigen Kritik von Menschenrechtsorganisationen und der Opposition an dem Vorgehen der Polizei, konnte man von der CDU nichts vernehmen. Dies entlarvte zugleich das opportunistische Verhalten der Union. Die türkischen Bürger sind sich dessen natürlich bewusst. Sie haben beide Ereignisse verfolgt, genauso wie die Reaktionen, die darauf folgten.

Der G20-Gipfel in Hamburg wird daher für viele auch als Demonstration der Doppelmoral in die Geschichte eingehen.

Burak Altun hat Neuere und Neueste Geschichte, Politikwissenschaft und Islamwissenschaft an der WWU Münster studiert. Aktuell studiert er Wissenschaftsphilosophie und arbeitet als freier Journalist für Daily Sabah.

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