Briefwechsel zwischen Chefredakteuren der Daily Sabah, Die Welt über Krise in Europa

DAILY SABAH
ISTANBUL
Veröffentlicht 20.03.2017 00:00
Aktualisiert 20.03.2017 16:28
Illustration by Necmettin Asma

Nach der Inhaftierung des Welt-Reporters Deniz Yücel schrieb WELT Chefredakteur Dr. Ulf Poschardt diesen Monat einen offenen Brief an den Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und forderte seine Freilassung. Im Leitartikel der Daily Sabah-Redaktion mit dem Titel „Gefahr des schleichenden Faschismus in Deutschland" wurden dieser Brief und Dr. Poschardt ab dem Absatz „Lieber Ulf" erwähnt.

„Wir als Daily Sabah können sagen, dass wir Ihren Brief lesen und die zum Ausdruck gebrachten Emotionen wirklich schätzen. Wenn nur die Großzügigkeit Ihrer Regierung gegenüber den Terroristen, auch den Millionen in Not geratenen Flüchtlingen helfen würde. Sie können sicher sein, dass der Fall von Yücel längst gelöst sein wird, bevor die Freunde und Familien der neun Türken, die von einer rechtsextremen deutschen Terroristengruppe getötet wurden, Gerechtigkeit finden. Wir werden den Fall von Yücel genau verfolgen und wir sind sicher, dass die unabhängige türkische Justiz der Gerechtigkeit dienen wird. Daily Sabah Mitarbeiter besuchen oft Deutschland und haben daher aus erster Hand Kenntnisse über Ihr Land. Jedes Mal, wenn einer unserer Kollegen Ihr Land besucht, bitten wir sie etwas von den köstlichen Pralinen mitzubringen. Sie können unsere Fußballmannschaften und Gurken loben, wie wir es mit Ihren Fußballern und Pralinen machen. Wenn wir aber einen Blick darauf werfen, wie Sie den Kern der deutschen Nationalmannschaft mit Spielern ausländischer Herkunft ausrüsten, wie Mesut Özil, Jerome Boateng und Lukas Podolski und Landskollegen, die Deutschland ihr Zuhause machten, finden wir es schwer, die aufstrebenden Rechtspopulisten, die die deutsche Politik und Gesellschaft dominieren, zu verstehen und niemand hat das Recht, uns darum zu bitten."

Die nachfolgende Korrespondenz kann als Fortsetzung dieses Leitartikels betrachtet werden.

Brief von Dr. Ulf Poschardt

„Lieber Serdar,

Danke für den Brief und den Respekt, den Sie mir in Ihrer ausführlichen Antwort bezeugt haben. Sie sprechen viele Themen an, über die wir in der WELT häufig und seitenweise berichtet haben. Unser Herausgeber, Stefan Aust, hat das bis dato umfangreichste Werk zum abscheulichen Terror der NSU veröffentlicht und der Politik in Deutschland dazu scharfe Fragen gestellt. Wir haben unserem Rechtsstaat keine unangenehme Nachfrage erspart. Das ist für uns selbstverständlich.

Auch was die Kritik einiger weniger, sehr weniger Politiker der AfD an Jerome Boateng betrifft, so haben wir uns logischerweise an ihr nie beteiligt. Im Gegenteil. Ich habe auf der Seite 1 der WELT mehrfach meinen Stolz auf genau diese Nationalmannschaft in ihrem Mix zum Ausdruck gebracht. Wir kritisieren jede Form der Xenophobie.

Die WELT ist eine unabhängige, liberale Zeitung und deswegen haben wir einen kritischen Journalisten wie Deniz Yücel, der die Türkei liebt, nach Istanbul gesandt. Mein Brief an den Staatspräsidenten war eine Reaktion auf die Bemerkungen, man könnte auch sagen Vorverurteilungen, die Deniz vor jedem Verfahren als Terroristen bezeichnet haben. Es wird Sie nicht überraschen, dass wir diesen Vorwurf weit von uns weisen.

Viel wichtiger aber ist: Wie kommen wir weiter? Wie können wir als Kollegen wieder einen Dialog finden, der ohne Vorwürfe und Unterstellungen auskommt? Was können wir Journalisten tun, damit die politische Eskalation auf beiden Seiten nicht Überhand nimmt? Wie finden wir wieder zueinander? Gibt es einen Weg? Was erwarten Sie von den Deutschen? Und was von deren politischer Führung? Wie ist Ihr Blick auf die deutsch-türkische Community?

In Zeiten von Zuspitzung und Verhärtung glaube ich an die Freiheit des Wortes und der Gedanken. Und daran, dass Dialog neue Freiräume kreiert. Auch deswegen der Brief.

Dr. Ulf Poschardt
Chefredakteur
DIE WELT, N24, WELT AM SONNTAG"

Brief von Serdar Karagöz

„Lieber Ulf,

Vielen Dank für Ihren freundlichen Brief. Die Fragen, die Sie am Ende aufgelistet haben, sind von größter Bedeutung. Ich schätze auch die Bedenken, die sie zu Deniz Yücel hegen. Es ist wichtig der türkischen Justiz zu trauen, so dass Deniz und seine Anwälte auf die Anschuldigungen auf die beste Art und Weise reagieren können. Der Prozess sollte im Gegensatz zum NSU-Prozess in Deutschland schnell abgeschlossen werden.

Sie beschreiben Die Welt als eine unabhängige, liberale Zeitung. Die Daily Sabah ist eine Publikation, die Freiheit und Menschenrechte in den Mittelpunkt ihrer Philosophie stellt. Als Vertreter der türkischen und deutschen Medien haben wir viel zu den bilateralen Beziehungen beizutragen. Doch bevor wir solch eine Aufgabe angehen, müssen wir uns zunächst ohne Vorurteile und Bedingungen wirklich verstehen.

Die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern beruhen auf einer tiefen und langen Geschichte der Zusammenarbeit, mit starken kommerziellen und politischen Bindungen, die nur unterbrochen wurden, als Deutschland von dem NS-Regime regiert wurde. Tausende von deutschen Wissenschaftlern, die vor der 1933 Nazi-Verfolgung flohen, fanden in der Türkei Zuflucht und trugen unermesslich zur Gründung der türkischen Hochschulen. In den vergangenen Jahrzehnten machten sich drei Millionen Türken in Deutschland heimisch, wobei sie beide Länder wirtschaftlich, kulturell und sozial bereicherten. Sie schufen ein Umfeld, das die Freundschaft zwischen den beiden Völkern förderte. Es ist keine Überraschung, dass die deutsche Nationalelf das zweit meist unterstütztes Team bei Fußball-Weltmeisterschaften, nach der Türkei, ist.

Ulf,

Dies ist das reiche Erbe unserer Vorfahren und ich bin ehrlich darüber besorgt, dass diese Generation deutscher Politiker alles aufs Spiel setzt, anstatt auf sie zu bauen. Mehr als drei Millionen Türken, die Deutschland als ihr Zuhause ansehen, haben Angst vor der Möglichkeit, dass das hässliche Gesicht des Faschismus wieder erhebt. Während Angriffe auf den Islam und alles, was als „anders" angesehen wird, im Zentrum Europas eskalieren, was wird mit nicht nur den Türken sondern auch Millionen anderswo passieren?

Wie kann eine Justiz immun gegenüber einer Gesellschaft sein, die auf den Wellen des Extremismus schwingt, die aus geopolitischen Tumult entstanden sind? Wird die deutsche Justiz in der Lage sein, diejenigen zu schützen, die nicht ethnisch deutsch sind? Was können wir als türkische und deutsche Intellektuelle tun, um Europa vor dem Verfall in den anti-islamischen Populismus zu verhindern? Wie kann die Gewissenskrise Europas, ihre Hingabe zu ihren grundlegenden Instinkten, Unwissenheit und Intoleranz entgegengewirkt werden? Ich möchte Sie nach Istanbul einladen, um ein gemeinsames Daily Sabah-Die Welt Panel zu veranstalten, um diese Fragen weiter nach zu denken.

Serdar Karagöz
Chefredakteur
DAILY SABAH"

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