Feindbild „Ja“-Wähler - eine Folge ideologisch-psychologischer Ursachen

BURAK ALTUN @burakaltun_DS
ISTANBUL
Veröffentlicht 11.09.2019 18:41
Aktualisiert 11.09.2019 18:55
Feindbild „Ja“-Wähler - eine Folge ideologisch-psychologischer Ursachen

Die „Ja"-Stimmen im Rahmen des Referendums zum Präsidialsystem stehen weiterhin auf der Tagesordnung der deutschen Medien. Man versucht sich den Ausgang der Wahl, insbesondere was die Wahltendenzen der Deutschtürken angeht, zwanghaft zu erklären.

Dabei werden die Folgen in Relation mit scheinbaren Ursachen gestellt. Die Schlussfolgerung lautet dann oft: Türken in Deutschland sind ungebildet und stimmten daher für ein „Ja".

Es ist eine vermeintliche Erklärung, die man gerne auch auf die Wahlerfolge der AK-Partei überträgt. Es scheint gar ein Totschlagargument mit universeller Gültigkeit zu sein. Nimmt man das Spiel mit der Ursache und Wirkung genauer unter die Lupe, kann man die Primitivität, die dieser Folgerung zu Grunde liegt, sehr leicht entlarven. Wahr ist aber der Umstand, dass der Ausgang der Wahl maßgeblich mit dem Vertrauen zu tun hat, das Erdogan unter der Bevölkerung genießt.

Der „Stern" veröffentlichte kürzlich ein Interview mit der türkischen Soziologin Gülay Türkmen-Dervişoğlu. Jene erforscht an der Universität Göttingen den türkischen Nationalismus, insbesondere im Verhältnis zu Religion und Gewalt. Zuvor lebte sie in den USA, studierte an der Elite-Uni Yale und gehört zu einer Gesellschaftsschicht, die eine solche Bildung in Anspruch nehmen kann. Das muss auch sie selbst zugeben: „In den USA ist das eher eine homogene Gruppe, in erster Linie sind es Menschen, die es sich überhaupt leisten können, nach Übersee zu ziehen, etwa für eine Ausbildung."

Sie steht symbolhaft für die wohlhabende und daher besonders politisch aktive Oberschicht der türkischen Gesellschaft. Der überdurchschnittliche Wohlstand hat ihr nicht nur den Weg für eine akademische Karriere eröffnet, sondern ihr auch den Luxus beschert, gesellschaftliche Partizipation zu genießen. Die Ungleichheit und die damit verbundenen Missstände, vor allem vor 2002, haben sie nie berührt.

Sie ist zwar Soziologin, doch ob sie jemals in die sozialen Strukturen eingetaucht ist, von denen sie glaubt, Bescheid zu wissen, ist fraglich. Egal wie anspruchsvoll eine soziologisch-wissenschaftliche Arbeit ist: sie wird nutzlos, wenn ihr der Bezug zum Leben fehlt.

„Die Türken, die es nach Übersee verschlägt, gehen dorthin, um dort ihren Doktorgrad oder ihren Master-Abschluss zu machen, es sind tendenziell sehr gebildete Menschen." erzählt sie. Bei den Wählern hierzulande stellt sie fest: „Die Migranten, die aus der Türkei nach Deutschland oder in die Niederlande ziehen, haben häufig einen anderen sozialen Hintergrund. Ich will nicht sagen, dass es ungebildete Türken sind, die hier leben. Aber die meisten hier kommen doch eher aus der Arbeiterklasse als aus Akademiker-Familien." Sie möchte die Familien der Arbeiterklasse also nicht als ungebildete Masse brandmarken. Indem sie es aber unterschwellig erwähnt, tut sie dann aber genau das. Diese arrogante und selbstgefällige Sicht ist nicht untypisch. So wie sie denken viele in den kemalistisch geprägten Schichten des Bildungsbürgertums.

Wenn man sich nun auf die These konzentriert, worin behauptet wird, dass die Unterstützung für Präsident Erdoğan und das Präsidialsystems auf der Grundlage einer mangelnden Bildung der Wähler beruht, dann sollte man zunächst die sozialpolitische Komponente stärker in den Fokus nehmen. Denn der Hauptgrund für die Unterstützung ist nicht etwa der vergleichsweise niedrige Bildungsgrad der Gastarbeiterfamilien, sondern die politische Realität, die sich zugunsten der Jahrzehnte lang benachteiligten Schichten in der Türkei entwickelt hat. Diese Schichten machen einen enormen Teil der Gesellschaft aus. Vor allem die muslimisch-religiöse Bevölkerung hatte unter starken Repressionen gelitten, aber auch ethnische Minderheiten wie Kurden, Armenier, Griechen oder Juden.

Diese benachteiligten Schichten konnten vor allem während den ersten Regierungsperioden der AK-Partei endlich durchatmen. Sie bekamen die Möglichkeit - unabhängig von Abstammung und Frömmigkeit - an der Gesellschaft teilzuhaben und aufzusteigen. Die Investitionen in der Infrastruktur erreichten zugleich die vernachlässigten Ortschaften in Anatolien. Genau hier liegt auch der eigentliche Grund für den Erfolg der AK-Partei. Sie hat genau das umgesetzt, was eine politische Partei machen sollte, um Erfolg zu haben.

Natürlich sind nicht alle Probleme gelöst worden: Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiterhin auseinander, das Lohnniveau der unteren Schichten ist schlecht und die Abhängigkeit von ausländischen Investitionen könnte auf lange Sicht problematisch werden. Dennoch: Das Vertrauen, das Erdogan genießt, ist enorm. Den alten Eliten gefällt das natürlich nicht. Denn der Aufstieg der AK-Partei führte folglich zum eigenen Machtverlust. Diese Elite wünscht sich die alten Zeiten zurück. Demokratie und Menschenrechte dienen als geeignete Motive, um die Ziele zu erreichen.

Dieses psychologische Macht-Phänomen ist nicht neu. In Deutschland sind die türkischen Migranten mit einem ähnlichen Szenario konfrontiert. Einerseits sollen sie sich partizipieren, andererseits stoßen sie auf Widerstand, wenn sie einen bestimmten Status erreicht haben, womit sie die deutsche Kultur mitbestimmen können.

In der türkischen Gesellschaft sieht es nicht anders aus. Die kemalistische Elite wünscht sich die alten Zeiten zurück. Sie kann es nicht verkraften, dass die Leute, die zuvor als „dumm" und „unfähig" dargestellt wurden, die Türkei in vielen Bereichen voran gebracht haben. Die Herbwürdigung der „Anderen" hat daher neben ideologischen Ursachen primär auch psychologische. Dieser Umstand wirkt sich auch auf die mageren Inhalte der Oppositionsparteien aus. Die CHP versucht seit Jahren vergeblich die Wahlen mit ihren alten Ideen und Slogans zu gewinnen - zuungunsten von reformpolitischen Inhalten.

Präsident Erdoğan kommt von ganz unten. aufgewachsen in den Armenvierteln in Istanbul, ist er eine Ausnahmeerscheinung in der türkischen Politik. Er versteht nicht nur die Sprache des Volkes, sondern vermittelt ihnen auch das Gefühl, sich für sie einzusetzen. Das erklärt auch seine Popularität. Die Menschen identifizieren sich mit ihm und nehmen seinen Erfolg als ihren eigenen wahr.

Burak Altun hat Neuere und Neueste Geschichte, Politikwissenschaft und Islamwissenschaft an der WWU Münster studiert. Aktuell arbeitet er als freier Journalist für Daily Sabah.

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