Chronische Missverständnisse über die Realitäten der Türkei

MARKAR ESAYAN @markaresayan
Veröffentlicht 02.08.2018 00:00
Aktualisiert 02.08.2018 12:02

Nach den Wahlen vom 24. Juni begann in der Türkei eine neue Ära. Das Präsidialsystem markiert die Ablösung eines alten, ineffektivem, an Vormundschaft orientierten und schwerfälligen Systems - es war schon seit langer Zeit kein effizientes Parlamentärsystem mehr. Mit dem neuen Präsidialsystem wurde zweifellos das für die Türkei am besten geeignete System gefunden. Dieses Modell, das in einem Referendum am 16. April 2017 von den Bürgern bereits akzeptiert worden war, wurde durch die Wahlen vom 24. Juni nochmals zementiert.

Hätte die Mehrheit der Bevölkerung das neue System nicht befürwortet, hätte sie auch nicht das Volksbündnis mit der AK-Partei und der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützt - auch wäre Recep Tayyip Erdoğan nicht als erster Präsident des Präsidialsystems gewählt worden. Der Systemänderungsentwurf gewann hat die Zustimmung des Volkes in allen drei Wahlen gewonnen.

Die Analysen, die ich in ausländischen Medien zu den Wahlen gelesen habe, betonten, dass Erdoğan und die Volksallianz die Wahlen gewonnen hätten, weil die Wähler nicht "rational", sondern aus Angst gehandelt hätten. Interessanterweise hat die republikanische Volkspartei (CHP) ihre Wahlniederlagen mit der gleichen Logik angegangen. Ince war sofort kritisiert worden, als er sagte: "Es besteht ein Unterschied von 11 Millionen Stimmen. Wie kann ich also den Ergebnissen widersprechen? Wie kann ich die Menschen auf die Straße rufen?"

Schon seit Beginn der Wahlen oder schon seit etlichen Wahlniederlagen, verachtet die CHP die Massen, die zumeist an den Urnen für die AK-Partei stimmen. So hat die CHP auch eine Entschuldigung für ihr eigenes Versagen zusammengebraut.

Es ist offensichtlich, dass diejenigen, die keine rationale Denkweise haben, nicht die AK-Partei-Wähler sind, sondern die CHP selbst. Hätte die CHP nach der ersten Wahlniederlage vor 16 Jahren vermieden, ihre eigene Nation zu verspotten und stattdessen rationale Schlussfolgerungen und daraus Lehren gezogen, würde das Bild jetzt sehr anders aussehen. Trotzdem hält die CHP ihre bisherige Haltung aufrecht.

Artikel in ausländischen Medien behaupten, dass die Wähler aus Angst gehandelt hätten und dass sie keine andere Wahl gehabt hätten, als Erdoğan zu wählen - aufgrund von Sicherheit und Stabilität. Die Überschneidung der Argumente der CHP mit den ausländischen Medien schafft ein völlig von der Realität losgelöstes Bild. Was in der Türkei passiert, wurde nicht richtig analysiert. Beiden gemein ist wahrscheinlich die Arroganz. Das macht sich dadurch bemerkbar, dass wann immer ein enttäuschendes Ergebnis aus der Wahlurne kommt, es als ungültig wahrgenommen wird. Um dies zu untermauern, werden Behauptungen erhoben, dass die Wähler "unfähig" seien, ein vernünftiges Urteilsvermögen zu erlangen. Wieder einmal wurde eine Kampagne gestartet, um den Eindruck zu erwecken, die Wahlen seien manipuliert worden.

Die CHP hat beide Ansätze übernommen. Während der Wahlen vom 7. Juni 2015 mussten die Menschen in den östlichen und südöstlichen Provinzen, insbesondere in ländlichen Gebieten, unter Androhung von Gewalt für die PKK-nahe HDP stimmen. Diejenigen, die darüber kein Wort verloren haben, führten auf der anderen Seite eine Kampagne über den Ausnahmezustand, der am 20. Juli 2016 nach dem Putschversuch vom 15. Juli verkündet wurde. So versuchten sie, die Grundlage für ihre Proteste zu bilden. Inces Bemerkungen nach den Wahlen vom 24. Juni sind der Beweis dafür.

Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass Ince der Typ von Politiker ist, der die Bevölkerung zu Protesten aufstacheln würde. Indem er die Niederlage auf demokratische Weise akzeptierte, demonstrierte er Würde und verdient Anerkennung. Das Gleiche kann man jedoch für den Rest der CHP kaum behaupten. Würde Ince zugeben, dass er kontaktiert und gebeten wurde, den Leuten zu sagen, dass sie gegen die Ergebnisse dieser Nacht protestieren sollten? Solche Behauptungen erschienen in den Medien.

Im Westen leben viele, die durch die Propaganda gegen die Türkei in die Irre geführt wurden, die wenig über die Probleme wissen und Ereignisse mit gemeinsamen Annahmen interpretieren. Es wäre an dieser Stelle hilfreich, wenn diese Leute zumindest die Möglichkeit in Betracht ziehen würden, dass die Wahrheit anders sein könnte. Die Türkei ist keine Diktatur. Türkische Wähler sind weitsichtige, vernünftige Bürger mit demokratischer Reife. Sie haben Erdoğan bei den letzten Wahlen mit großem Abstand zum ersten Präsidenten des neuen Systems gewählt - seiner Partei verweigerten sie jedoch die parlamentarische Mehrheit. Ist es also klug, die Wähler der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei mit Ignoranz zu bezichtigen? In welcher Diktatur wird ein angeblicher Diktator mit 52,6 Prozent der Stimmen gewählt?

Anstatt die Wähler zu beschuldigen, müssen wir erkennen, dass sie ihre Stimmen mit Vorsicht abgeben. Die AK-Partei erhielt nur 42,56 Prozent der Stimmen. Warum gibt es zwischen Partei- und Präsidentenwahl einen Unterschied von 10 Prozent? Ist das kein rationaler Ansatz? Die CHP hat sich noch nicht gefragt, warum sie im Wahlkampf Stimmen verloren hat. Mit 22,65 Prozent der Stimmen hält sie sich noch immer für gesegnet. Auch der Kandidat der CHP hält sich trotz seiner Wahlniederlage für erfolgreich, weil er mehr Stimmen (30,64 Prozent) erhielt als seine Partei.

Das Abbild der türkischen Demokratie und Soziologie wurde, absichtlich oder aus Gleichgültigkeit, nicht mit ausreichender Sorgfalt erstellt. Einige unserer westlichen Freunde und die CHP konnten die Türkei nicht richtig analysieren und waren nicht bereit, die demokratischen Ergebnisse zu akzeptieren. Daher basieren bauen sie ihre Strategien für die Türkei auf falschen Annahmen auf.

Als Schlüsselland in ihrer Region hat die Türkei am 15. Juli den grausamen Putschversuch der Gülenisten-Terrorgruppe (FETÖ) durch einen friedlichen, zivilen Widerstand zurückgeschlagen. Dabei wurden leider 250 Bürger brutal von den Putschisten getötet. Wie würde die Region, Europa und die Welt heute aussehen, wenn die Demokratie und die Stabilität in der Türkei am 15. Juli zusammengebrochen wären? Welche Krisen hätten wir heute in Europa? Was hätte man mit den Millionen von Flüchtlingen gemacht?

Die Türkei hat sowohl dem religiösen Fundamentalismus als auch den säkularen terroristischen Gruppen schwere Schläge versetzt. Die Operation "Euphratschild", in welcher fast 4.000 Terroristen neutralisiert wurden, war ein Wendepunkt bei der Zerschlagung von Daesh. Diese Operation wurde am 24. August 2016, nur 40 Tage nach dem Putschversuch vom 15. Juli, von der türkischen Armee gestartet.

Wie lange wird diese selektive Blindheit und Ignoranz für die Türkei weitergehen? Wie lange wird es dauern, bis sie erkennen, dass die Türkei einzigartig ist, weil sie ein säkularer, muslimischer, demokratischer Rechtsstaat mit einer jungen Bevölkerung, einer starken Armee und einer großen Wirtschaft zwischen dem Nahen Osten und Europa ist?

Demokratische Entwicklungen in der Türkei, Ankaras Politik, seine wachsende Macht und Unabhängigkeit könnten einige Machtkreise stören. Die Welt ist auch kein Rosenbeet; aber ist es nicht auch zu naiv zu erwarten, dass demokratische Gesellschaften, Organisationen und unabhängige Medien erkennen, dass sie in diesem schmutzigen Kampf eingesetzt werden?

Die Türkei wird ihre makroökonomischen Ziele weiterhin erreichen und sich selbst erfolgreich schützen. Trotz den obskuren Methoden, mit denen sie konfrontiert ist, wird sie weiterhin mit einer Win-Win-Formel aufkommen - dies innerhalb des Gesetzes und der Regeln, in transparenter und legitimer Weise.

Ich glaube, dass die Türkei bald in ihren Ansichten bestätigt werden wird - und die Welt wird erkennen, dass FETÖ eine zerstörerische Terrorgruppe ist, welche für jedes Land, wo sie aktiv ist - insbesondere für die Vereinigten Staaten - eine Bedrohung ist. Dies gilt natürlich auch für die PKK und ihre syrische Partnerorganisation, die Volksschutzeinheiten (YPG).

Diejenigen, die Angst vor einer starken Türkei haben, liegen falsch. Die Türkei ist ein verlässlicher Freund und Verbündeter, der seine Region und somit auch die Welt in vielerlei Hinsicht positiv beeinflusst. Es ist notwendig für die Zukunft, die Verhaltensnormen der Kolonialzeit und die damit verbundene zwischenstaatliche Rivalität zu minimalisieren und sich auf der Grundlage eines «Win-Win-Ansatzes» vorwärts zu bewegen. In einer Zeit, in der wir in eine multipolare Welt übergehen, scheint es für einige Akteure wichtig zu sein, eine Atmosphäre wie im Vorfeld des Ersten Weltkriegs zu kreieren. Ein neues Paradigma und ein Standard der Ethik scheinen erforderlich. Feindselige und scheinheilige Ansätze gegenüber der Türkei weisen auf einen Trend hin, der über Ankara hinausgeht. Natürlich hat die Türkei in der Vergangenheit auch Fehler begangen - und ist stets mit Problemen konfrontiert. Die Türkei kann von der Kritik und vom Rat ihrer Verbündeten lernen. Die Vorfälle in den letzten fünf Jahren sind jedoch nicht auf einen Rückgang der demokratischen Kultur zurückzuführen. Es ist wichtig, dies unterscheiden und begreifen zu können.

Auf Facebook teilen Auf Twitter teilen
DAILY SABAH VORSCHLÄGE