Frankreich: Stillstand beim EM-Gastgeber

DAILY SABAH MIT AFP
PARIS
Veröffentlicht 09.06.2016 00:00
Aktualisiert 13.06.2016 13:57
AFP

Streiks, Blockaden, gewalttätige Proteste, ein erbitterter Kampf gegen eine ungeliebte Reform - ausgerechnet vor der Fußball-Euromeisterschaft erfüllt Frankreich wieder einmal viele Klischees. Denn der Turniergastgeber ist nicht nur für Spitzenküche und Haute Couture bekannt, sondern hat auch den Ruf der chronischen Reformunfähigkeit. Die Gewerkschaften gelten als besonders widerborstig, Arbeitskämpfe werden häufig mit großer Härte ausgetragen. Experten sehen dafür eine Reihe von Gründen - aber auch Anzeichen einer Besserung.

Seit Monaten lähmt der Streit um eine Arbeitsmarktreform Frankreich

Von einer Besserung ist im Moment allerdings noch wenig zu sehen. Seit Monaten lähmt der Streit um eine Arbeitsmarktreform das Land. Mit Demonstrationen, Streiks und Blockaden machen die Gewerkschaften gegen die Pläne von Staatschef François Hollande mobil, der mit einer Lockerung des Arbeitsrechts die hohe Arbeitslosigkeit bekämpfen will.

Reformen sind in Frankreich schwieriger als anderswo

Die Fronten sind verhärtet - und die sozialistische Regierung wirkt ratlos. "Dieses Land stirbt manchmal an seinem Konservatismus, an der Unmöglichkeit zu reformieren", seufzte kürzlich Premierminister Manuel Valls. Von einer "psychologischen Blockade" spricht der frühere Chef der Welthandelsorganisation, Pascal Lamy, ein Franzose. Reformen seien in Frankreich "schwieriger als anderswo, denn wir haben Angst, uns der heutigen Welt zu stellen", sagte er kürzlich dem Magazin "Le Point".

Bei Streiktagen befindet sich Frankreich zusammen mit Zypern, Griechenland und Spanien unter den Top 4 Europas

Und so gehört Frankreich zu den streikfreudigsten Ländern Europas. "Bei Streiktagen befindet sich Frankreich zusammen mit Zypern, Griechenland und Spanien unter den Top 4 Europas", sagt der Gewerkschaftsspezialist Kurt Vandaele. Höhepunkte gebe es, wenn eine Regierung Arbeitsmarkt- oder Rentenreformen in Angriff nehme, wie etwa 1995, 2003, 2006 und 2010.

Erst der Konflikt, dann die Verhandlung

"Konflikt hat bei uns Tradition", sagt der französische Historiker Stéphane Sirot. "Seit der Französischen Revolution basiert die soziale Regulierung auf dem Motto: erst der Konflikt, dann die Verhandlung." Das sei in vielen südeuropäischen Staaten so, wohingegen beim Nachbarn Deutschland und in Nordeuropa zunächst auf Verhandlungen gesetzt werde. "In den Konflikt geht man dort erst, wenn die Verhandlungen gescheitert sind."

In Frankreich hat das auch mit der Gewerkschaftsstruktur zu tun: Es gibt eine Reihe konkurrierender Gewerkschaften, die sich eine Art Überbietungswettbewerb liefern. Außerdem ist nur rund jeder zehnte Angestellte Gewerkschaftsmitglied, was die Legitimität der Gewerkschaften mindert. Das erschwert einen sozialen Dialog zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern - leichter ist es für die Gewerkschaften, mit radikalen, öffentlichkeitswirksamen Aktionen für Aufsehen zu sorgen.

In Deutschland sind Streiks nur bei Tarifkonflikten erlaubt, in Frankreich sind auch "politische" Streiks gegen Reformvorhaben zulässig

Auch ist das Streikrecht in Frankreich anders geregelt als etwa in Deutschland: Während in Deutschland Streiks nur bei Tarifkonflikten erlaubt sind, sind in Frankreich auch "politische" Streiks gegen Reformvorhaben der Regierung zulässig, wie es derzeit der Fall ist. Abgesehen davon, dass Frankreichs Beamte anders als die deutschen Kollegen streiken dürfen.

Seit den 80er Jahren versuche Frankreich sich aber eine "friedlichere" Verhandlungskultur anzueignen, sagt Sirot. Die Zahl der Streiktage habe sich in den vergangenen Jahrzehnten halbiert, die Zahl betrieblicher Vereinbarungen sei dagegen stark angestiegen. Und sogar die Gewerkschaft CGT, die derzeit an der Spitze der Protestbewegung steht, unterzeichne 85 Prozent aller Betriebsvereinbarungen.

Hollande vernachlässigt seine eigenen Grundpfeiler

Hollande hatte den sozialen Dialog zu einem Grundpfeiler seiner Politik gemacht - doch ausgerechnet bei der Arbeitsmarktreform vernachlässigte er diese Methode. Das brüskierte die Gewerkschaften, die ohnehin bitter enttäuscht sind vom unternehmerfreundlichen Reformkurs des Sozialisten. Sie werfen ihm, wie viele Sozialisten auch, einen Verrat linker Ideale vor - auch das erklärt die Radikalität ihrer Proteste.

Die Franzosen sind der derzeitigen Streiks und Blockaden inzwischen überdrüssig, 54 Prozent lehnen sie einer Umfrage zufolge ab. Sie wissen auch: Bilder von stillstehenden Zügen, überquellenden Mülleimern und Randalen bei Demonstrationen schaden dem Image des Landes, das sich als EM-Gastgeber eigentlich von seiner besten Seite zeigen wollte.

Auf Facebook teilen Auf Twitter teilen