Erdoğan-Interview: „Viel weniger Gold im Präsidentenpalast als berichtet wird“

ALI HARUN BALKAYA
WUPPERTAL
Veröffentlicht 25.08.2016 00:00
Aktualisiert 25.08.2016 16:50
RTL

Deutsch-Türken entscheiden sich pragmatisch bei der Frage für oder gegen eine Sympathie zur Türkei.

Kein Gold im Palast. Auch sei die Suche nach „Kopftuch-Frauen" erfolglos geblieben. Außerdem habe ihr der türkische Staatspräsident sogar die Hand gegeben – was ihrer Meinung nach „strenge Islamisten" nicht täten. Das berichtete RTL-Chefkorrespondentin Antonia Rados in einer Live-Sendung der Öffentlich-Rechtlichen nach ihrem Interview mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan in Ankara und löste eine Welle der Fremdscham in den Sozialen Medien aus.

Besonders türkischstämmige Bürger zeigen sich fassungslos, mit welcher scheinbaren Ahnungslosigkeit und Vorurteilsladung die neuere Türkei-Debatte selbst von einer hochdotierten und auslandserfahrenen Journalistin wie Rados angegangen wird. Auch in den sozialen Netzen sprudelt es vor RTL-Spottvideos, die sich lustig über den Sender machen, der es bei einem Premium-Interview derartige Nebensächlichkeiten als erwähnenswert erachtet, die stark den Eindruck erwecken, sie stammten von festgesetzten Stereotypen von Vorurteilen: „Der türkische Präsident als Sultan im goldenem Palast mit Harem". Der unbeirrt ernste Ton würde eine ungewollte absurde Komik erzeugen, trüge das Thema nicht eine Ernsthaftigkeit mit sich.

Siebenundzwanzig Tage lang haben sich in allen großen Städten der Türkei Menschen zu hunderttausenden Nacht für Nacht auf öffentliche Plätzen zusammengefunden, um ihre zivile Wache zu halten, den Verletzten und Getöteten von der Putschnacht des 15. Juli 2016 zu gedenken, jene Verantwortliche für das Massaker zu warnen und nicht zuletzt den Erfolg der Zivilbevölkerung ausgelassen zu feiern. Während des Putschversuchs wurden bei Beschuss von Luft und Land über 2000 Menschen lebensgefährlich verletzt und 260 getötet. Seitdem ist das weltweite Netz der Gülen-Bewegung, die schon seit geraumer Zeit in der Türkei wegen Verbrechen auf vielen Ebenen und insbesondere der Unterwanderung der Staatsorgane, als Hauptverantwortlicher ausgemacht und wird systematisch aus dem Staatsapparat entfernt.

Zuvor war es - auch in der außertürkischen - Geschichte undenkbar, dass es möglich ist, einen bewaffneten Militärputsch durch die zivile Kraft der Bürger zu ersticken, wie es im letzten Monat in der Türkei geschehen ist. Der größte Ausdruck der Verwunderung und der Freude hierüber war wohl bisher die Großkundgebung auf dem Yenikapı-Platz in Istanbul am 7. August 2016, bei dem nach Angaben der Polizeibehörde knapp 5 Millionen Menschen im und um das Gelände herum zusammentrafen, aus allen politischen Lagern und Ethnien der Türkischen Republik, um ein einmaliges Ereignis in seiner gesamten Geschichte der Türkei zu bezeugen.

Zum ersten Mal traten gemeinsam die drei größten politischen Parteien, die der regierenden AK-Partei, der CHP und der MHP, in einer bis davor ungesehen festentschlossenen inhaltlichen und symbolischen Einheit auf. Während sich die drei Lager vor dem Putschversuch in vielen Thematiken uneinig waren, zeigten sie der türkischen Bevölkerung, dass sie gemeinsam das können, was das Volk schon lange erreicht hat: Zusammenhalt bei Not.

Es ist nicht übertrieben, das aktuelle Gefühl der türkischen Bevölkerung mit dem der Deutschen bei der Wiedervereinigung 1989 zu vergleichen: Es herrscht eine Euphorie, hervorgerufen durch die Erleichterung, eine Militärdiktatur abgewendet zu haben, den Verlust aller Errungenschaften, wie die demokratischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und einen Rückschritt auf unabsehbare Zeit bedeutet hätte.

So ist das Unverständnis der Bürger der Türkei und in den europäischen Ländern umso größer, wenn im Westen die Teilnahme an der Freude um die Errungenschaften spät und verhalten ausgefallen ist und stattdessen die warnenden und „besorgten" Stimmen immer sehr viel deutlicher und lauter zu hören sind.

Die Anti-Putsch Kundgebung in Köln mit 100.000 Besuchern wurde beispielsweise in den meisten überregionalen Zeitungen einhellig als „Pro-Erdoğan Demo" bezeichnet, ihre Teilnehmer wurden als „Erdoğan-Anhänger" betitelt. Insbesondere ließ sich in der türkischen Community immer deutlicher erkennen, dass unter den massiven Verleumdungen und Vorwürfen gegenüber der Türkei in der bedrohlichen Krisenzeit eine große Zahl von auserlesenen „Erdoğan-Gegnern" immer mehr „ihren Präsidenten" in Schutz zu nehmen bereit geworden ist.

Neuesten Umfragen zufolge hat die Popularität des Staatspräsidenten enorm zugenommen, was nicht auf die 50%, die ihn ohnehin direkt gewählt haben, sondern auf alle übrigen Wähler, von denen ein Teil mehrheitlich opponent eingestellt war, zurückgeführt werden muss. Der große Druck, den namhafte Zeitungen in Deutschland mit besonders unverhältnismäßiger Kritik an der Türkei in ihrem regelrechten „Erdowahn" entstehen lassen, zwingt die Deutsch-Türken, sich für oder gegen eine Sympathie für die demokratische Präsenz der Türkei und somit der türkischen Regierung zu entscheiden. Dies verleitet die betroffenen zur Unterstützung des demokratischen Establishments, denn im Vergleich mit den alten Verhältnissen, die zwischenzeitlich in der Türkei geherrscht haben, sind die meisten heute mehr als zufrieden. Das würde auch ein Goldschatz nicht ändern, wenn denn Rados einen im türkischen Präsidentenpalast gefunden hätte.

*Student der Wirtschaftswissenschaften, Bergische Universität Wuppertal

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